
Spätestens seit seiner Goldenen Palme 2018 in Cannes für SHOPLIFTERS ist Hirokazu Kore-eda auch einem westlichen Kinopublikum ein Begriff. Inzwischen fällt sein Name häufig im gleichen Atemzug mit den großen Meistern seines Landes: Akira Kurosawa, Mikio Naruse und natürlich Yasujirō Ozu, mit dem ihm die Familie als Hauptsujet, das sich durch beider Schaffen zieht, verbindet. Während Ozu deren Wandel vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts betrachtet, ist es das System Familie selbst, das bei Kore-eda großen Veränderungen unterliegt. Die Retrospektive lädt ein, zehn der schönsten Werke des wohl bedeutendsten zeitgenössischen japanischen Filmemachers zu entdecken.
Chronist und Humanist
Als Kore-eda mit MABOROSHI NO HIKARI sein Spielfilmdebüt abliefert (und damit einen ersten Preis auf dem Filmfestival in Venedig erhält) kann er bereits auf einige Jahre Erfahrung hinter der Kamera zurückblicken: 1962 in eine mittelständische Familie in Tokio geboren, studiert er zunächst Literatur an der Waseda-Universität, nutzt die Zeit jedoch vor allem, sich ein großes Filmwissen anzueignen. Erst als ihm klar wird, dass er in diesem Bereich einen Beruf ergreifen will, schwenkt er um.
Ende der 1980er-Jahre ist das allerdings eine denkbar schlechte Entscheidung: Das etablierte Studiosystem steckt in einer tiefen Krise, Kinos müssen reihenweise schließen, unabhängige Produktionen bleiben aus. Im Gegensatz zu anderen Neulingen seiner Generation, die bereits während des Studiums mit ersten Arbeiten auf sich aufmerksam machten, kann Kore-eda keine Referenzen vorweisen. Als einzige Alternative bleibt ihm das Fernsehen. Er heuert bei TV Man Union an, der ersten unabhängigen Fernsehproduktionsfirma, geschätzt für herausragende Dokumentarfilme.
Nach einem Jahr als Assistent dreht er heimlich seinen ersten Film über eine Grundschule in der Präfektur Nagano, deren Unterricht sich rund um die Aufzucht und Pflege von Tieren gestaltet und den er erst fertigstellen kann, nachdem seine erste offizielle Auftragsarbeit rund um die Schattenseiten des japanischen Wohlfahrtssystems sich als großer Erfolg entpuppt.
In weiterer Folge entstehen mehrere Dokumentarfilme, die im Grunde jene wesentlichen Themen, die er in seiner späteren Karriere als Spielfilmregisseur wieder aufnehmen würde, vorwegnehmen: Aufwachsen, soziale Ungleichheit, der Tod von und die Erinnerung an geliebte Menschen – die Frage nach dem, was bleibt.
Heute gilt Kore-eda als etablierte Größe im Weltkino. An der Oberfläche wirken seine Filme unaufgeregt, nahezu entspannend, während sie auf den zweiten Blick komplexe Beziehungen und Gefühlswelten offenbaren. Anders als Ozu, mit dessen Filmschaffen Kore-eda gerne verglichen wird, probiert er sich jedoch an unterschiedlichen Genres aus und streicht seine dokumentarischen Wurzeln hervor, indem er auf Improvisation setzt, häufig mit Laiendarstellern – vor allem Kindern - arbeitet und seine Inspiration aus persönlichen oder kollektiven Erfahrungen bezieht. Da er dabei immer wieder starke Frauenfiguren ins Zentrum seiner poetischen Bilderwelten rückt, stellt er seine Filme in die Tradition der Gendai-geki Melodramen aus den 1930er-Jahren. Auf vielfältige Weise verarbeitet er die verschiedenen Lebenswelten seines Landes und erweist sich dabei als feinfühliger Chronist, vor allem aber als großer Humanist, dessen Werke überall auf der Welt zu Herzen gehen.






















