Die Filmgeschichte ist weiblich, ein zugegeben provokantes Motto, unter das wir unseren neuen Programmschwerpunkt stellen. Denn eigentlich ist die Filmgeschichte vor allem dominiert von männlichen Produzenten, Regisseuren oder visionären »Genies« – und damit prädestiniert für einen absichtlichen Widerspruch. Wer nämlich genauer hinsieht, erkennt rasch, dass Frauen von Anfang an ganz wesentliche Beiträge zu der Entwicklung des Mediums geleistet haben: Alice Guy-Blaché dreht 1896 den ersten fiktionalen Film überhaupt, Lois Weber ist in den 1910er-Jahren eine gefeierte Regisseurin, Lotte Reiniger erfindet gewissermaßen den abendfüllenden Animationsfilm. Die Filmgeschichte war also immer auch weiblich – sie wurde bislang nur männlich geschrieben.
Die Filmgeschichte ist weiblich ist somit nicht nur als Rückblick zu verstehen, sondern vor allem als Einladung dazu, Geschichte neu zu entdecken und als eine Erinnerung daran, dass jedes Bild, jede Stimme und jeder Schnitt ein Akt der Positionierung ist: eine Erweiterung des Kinos hin zu einem Ort gemeinsamer Erfahrungen. Zum Auftakt begeben wir uns zurück an die Anfänge des Mediums und schließen damit an unser Projekt Leading Ladies of Silent Cinema 2023/24 an. Im Fokus der sechs Programme stehen weiblicher Protest, anarchistische Zerstörungsorgien und das suggestive Spiel mit Geschlechtsidentitäten: Willkommen in der wilden Welt der Rebellinnen des frühen Kinos!
Vibrierende Zeitkapseln einer alternativen Kinogeschichte
Dass in den Archiven wertvolle Schätze der Kinogeschichte schlummern und nur darauf warten, (wieder) entdeckt zu werden, ist ebenso wenig ein Geheimnis, wie die Tatsache, dass die Filmgeschichte lange Zeit aus einer vorwiegend männlichen Perspektive geschrieben wurde. In der jüngeren Vergangenheit scheint sich dies endlich zu verändern: Wissenschaftlerinnen durchforsten die Bestände auf der Suche nach den Spuren, die Frauen in den Anfängen des Kinos hinterlassen haben, und fördern dabei erstaunliche Funde zutage. Sie entreißen diese Filme im doppelten Sinne dem Vergessen: Indem sie sie (auch auf materieller Ebene) wieder zugänglich machen und jene in den Fokus rücken, die diese Filme gemacht haben.Eines der verdienstvollsten Projekte in dieser Hinsicht aus den letzten Jahren versammelt unter dem Titel Cinema’s First Nasty Women eine Zusammenstellung von Filmen, die zwischen 1899 und 1926 in Europa und den USA entstanden sind. Wir sehen darin Frauen, die keinen gängigen Stereotypen entsprechen – im Gegenteil: Sie organisieren sich in Streikbewegungen, funktionieren Selbstgebackenes zur Waffe um, oder fliegen sogar bis zum Mond. Von Slapstick-Komödien über Haushaltspossen bis hin zum Western, Abenteuer oder zur futuristischen Utopie reicht das breite Genrespektrum. Und obwohl sie über 100 Jahre alt sind, stehen sie nach wie vor im Einklang mit feministischen Anliegen unserer Gegenwart, in der Frauenrechte wieder verstärkt zurückgedrängt und autoritäre Chauvinisten zu Präsidenten gewählt werden.
Unsere Auswahl von 48 Titeln folgt der Grundintention des Projekts, dabei jenen Darstellerinnen eine Plattform zu gewähren, denen bislang eine größere Anerkennung verwehrt blieb: Sarah Duhamel, Lea Giunchi, Edna »Billy« Foster oder Little Chrysia – um nur einige zu nennen. Über viele von ihnen weiß man kaum mehr, als was von ihnen in den Filmen geblieben ist – von manchen ist nicht einmal ihr richtiger Name überliefert. Gleichzeitig eröffnet diese Leerstelle einen Raum für neue Fragen: Was verraten uns diese Figuren über weibliche Selbstermächtigung zu einer Zeit, in der Frauen gesellschaftlich stark eingeschränkt waren? Und wie stark müssen ihre Auftritte einst irritiert haben, wenn sie selbst heute noch subversiv wirken? Die Filme werden so zu vibrierenden Zeitkapseln einer alternativen Kinogeschichte: frech, widerständig, überraschend modern.
(Florian Widegger)